Die Geschichte des Goethe-Quartiers [4/4]

Schatten und Licht

Nach Abschluss des Sanierungsprogramms hieß es einmal, die Wohnverhältnisse hätten sich infolge der Maßnahmen nachhaltig verbessert. Wie wir heute wissen, war der damals erzielte Erfolg leider nur von kurzer Dauer.

Nach dem wirtschaftlichen Boom der "Wirtschaftswunderjahre", der bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts angehalten hatte, kam es mit dem Niedergang der deutschen Hochseefischerei, der Werftenkrise und dem Abzug der US-Army aus Bremerhaven zu einem grundlegenden Strukturwandel. Infolge der weggefallenen Arbeitsplätze auf den Werften, in der Fischerei und in der fischverarbeitenden Industrie kam es in Bremerhaven zu einem Bevölkerungsrückgang. Die Nachfrage nach Wohnraum ging zurück. Wohnungen blieben leer.

Vor allem das große Angebot freigewordener und sanierter Wohnungen am Blink hatte nach dem Abzug der US-Army eine starke Zunahme von Wohnungsleerständen im Goethe-Quartier zur Folge. Aufgrund der Leerstände in den Plattenbauten in Bürgerpark-Süd wurde dort ein Teilweiser Rückbau (Abriss von Hochhäusern) eingeleitet. Von derartigen Maßnahmen blieb auch der Geestemünder Ortsteil Grünhöfe nicht verschont. Im Rahmen einer großflächigen Sanierung wurden dort ebenfalls einzelne Wohnblöcke zurückgebaut. Ein infolge der Rückbaumaßnahmen von den Stadtplanern erwarteter Zuzug aus Bürgerpark-Süd und Grünhöfe in das Goethe-Quartier blieb jedoch weitestgehend aus.

Einige Gebäude im Viertel, die den Zweiten Weltkrieg überstanden hatten, sind später Immobilienspekulanten zum Opfer gefallen:
Einem Eigentümer fehlt das Kapital für notwendige Instandhaltungsarbeiten. Wenn deswegen niemand mehr in dem Haus wohnen will, wird es vielleicht für wenig Geld verkauft oder zwangsversteigert. Ein Spekulant kommt auf diese Weise an ein "Schnäppchen", frischt es mit etwas Farbe auf und verkauft es für ein Vielfaches seines Einsatzes weiter. Der nächste Spekulant freut sich über ein vermeintliches "Schnäppchen" und merkt erst später, dass er für das gute Stück weit mehr bezahlt hat, als es noch wert ist. Wenn er Glück hat, wird er es für einen noch höheren Preis an einen weiteren neuen Eigentümer verkaufen können - aber mit Sicherheit wird eines Tages irgendjemand in der Spekulantenkette darauf sitzen bleiben.

Damit nimmt das Schicksal seinen Lauf. Das Haus beginnt zu verwahrlosen. Irgendwann bröckelt die Fassade. Regen und Schnee dringen durch das undicht gewordene Dach oder durch offenstehende Fenster ein. Am Ende gibt es eine neue "Schrottimmobilie" ...


Das sind die Schattenseiten, die von der Regenbogenpresse oder privaten TV-Sendern in schöner Regelmäßigkeit in der Öffentlichkeit breitgetreten werden. Eine gründliche Recherche und die Analyse der Ursachen finden dabei in der Regel nicht statt.

Aber wo Schatten ist, da gibt es auch Licht. Von Außenstehenden weitgehend unbemerkt, ist im Goethe-Quartier seit einigen Jahren ein positiver Wandel spürbar.

Menschen mit vielen verschiedenen kulturellen Wurzeln kommen hier gut miteinander aus. Deutlich wird das besonders beim Goethestraßenfest, das inzwischen bereits seit mehreren Jahren von allen gemeinsam gefeiert wird. Nachbarn aus verschiedenen Kulturkreisen teilen miteinander ihre Musik und Spezialitäten aus den Küchen vieler Nationen laden zu einer kulinarischen Weltreise ein. Das alljährliche Sommerfest des "Club Espaniol" ist legendär.

Aus ehemaligen "Schrottimmobilien" entstehen schmucke Gründerzeithäuser mit restaurierten bzw. wiederhergestellten Stuckfassaden. Kunst und Handwerk kehren zurück ins Quartier. So wohnen und arbeiten beispielsweise Menschen aus der Kultur- und Kreativwirtschaft unter anderem in der Goethestraße 45. Es gibt einen "Co-Working Space" für Existenzgründer, ein auf die Bedürfnisse von Studierenden zugeschnittenes Wohnhaus, eine Kunstgalerie und vieles mehr.

Einen Teil der Entwicklungen und Veränderungen im Goethe-Quartier habe ich selbst miterlebt.
Auf den folgenden Seiten nehme ich euch mit in die ersten Jahre meiner Kindheit und zu meinen Wurzeln im Süden Lehes in der Mitte des 20. Jahrhunderts ...
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